Trojaburg
 
 

Leopold v. Schröder: Die Wurzeln des heiligen Gral - Zusammenfassung

Zusammenfassung und Schluss

Wir haben die Wurzel der Graldichtung - soweit nicht christliche Legende, sondern alt-arische Sage in Betracht kommt - in der uralten Vorstellung von Sonne und Mond als wunderbare himmlische Gefäße mit köstlichem begehrenswertem Inhalt, reiche Gaben spendend. In fernem Lichtland strahlen sie, oben auf dem Himmelberg, den Menschen unnahbar, nur Göttern, Halbgöttern und Seligen zugänglich.

Das Mondgefäß, dessen Inhalt - der himmlische Rauschtrank - von den Göttern getrunken, immer wieder aus Neue anschwillt; der kupferne Kessel des Sonnengottes Vivasvant, der dem Yudhishtira und seinen Leuten nach Wunsch unerschöpflich Speisen spendet; der Breitopf des Rituals, der die Sonne im Abbild darstellt und für den frommen Darbringer zu Wunschkuh werden soll, die ihm alle Wünsche erfüllt; das unerschöpfliche Breitöpfchen des deutschen Kindermärchens; die unendlich mannigfaltigen Geschichten von den Wunschmühlen in Europa, die im Grunde auch nichts weiter sind, oder doch ursprünglich waren, als wunderbare, Gaben spendende Gefäße, nichts anderes ursprünglich als wiederum Sonne oder Mond, in solcher Weise vorgestellt; das Tischlein-deck-dich neben dem Esel Bricklebit im deutschen Märchen; die verschiedenen Zaubergefäße der keltischen Sage, die teils Speise und Trank, teils auch andere Gaben und Kräfte spenden, die ebenso untereinander zusammengehören, wie sie andererseits von den Wunschmühlen verwandter europäischer Völker sich durchaus nicht trennen lassen; insbesondere auch das wunderbare goldene Becken, das Peronnik, der Dümmling im bretonischen Märchen, dem Riesen Rogear abgewinnt und das ebenfalls Speise und Trank spendet, daneben auch Tote lebendig und Kranke gesund macht - sie sind sämtlich nur Variationen ein und derselben Grundvorstellung, die bei den fantasievollen arischen Völkern augenscheinlich in großer Kraft und Fülle wucherte. Die Vorstellung von dem heiligen Gral als einem goldenen oder sonstigen köstlichen Gefäß, das auf wunderbare Weise unerschöpflich Speisen und Trank spendet, reiht sich hier so ungezwungen an, dass wohl nichts natürlicher erscheint als die Annahme, dass die christliche Dichtung des Mittelalters hier, auf die fabelhafte Passionsreliquie des Joseph von Arimathia, eine Anzahl märchenhafter Züge übertragen hat, die dem arischem Volkstum und speziell auch dem keltischen, in dessen Geist die Gralsage erwuchs, seit alters her so geläufig waren und mit so vielen sagen- und märchenhaften Gefäßen verbunden waren. Speziell die Speise gebende Kraft des Grals erklärt sich so auf die natürlichste Weise. Wenn Heinzel die Ansicht äußert, die Identifikation des Gefäßes, in welchem Joseph von Arimathia das Blut Christi auffing, mit der Abendmahlschüssel Christi, sei ein wichtiger Schritt in der Sagenentwicklung gewesen und es hinge damit wohl auch die Speise gebende Kraft des Grals zusammen,270 so soll ihm darin nicht durchaus widersprochen werden. Gewiss passte die Speise gebende Kraft besser zur Abendmahlschüssel als zu dem Blutgefäß. Indessen ist damit die Speise gebende Kraft doch noch keineswegs gegeben, am wenigsten in jener naiven Form, wie sie uns bei Wolfram und einigen französischen Dichtern entgegentritt - spise warm, spise kalt usw. -, während dieselbe durch Übertragung eines geläufigen Sagen- und Märchenmotivs sich ganz leicht ohne weiteres erklärt.

Es bleibt in der Beziehung sehr beachtenswert, was Eduard Wechssler bemerkte: „Trotz ihres ausgesprochen religiösen Charakters wurde die Legende von Kirche und Geistlichkeit nicht anerkannt. Kein Schriftsteller von geistlichem Stand erzählt uns vom Gral. Nirgends finden wir in den so zahlreich überlieferten Werken der Geistlichen auch nur den Namen des Grals außer bei dem Chronisten Helinand271, erwähnt. Und doch kann ihnen die wundersame Märe von dem sechsfachen Glaubenssymbol nicht unbekannt geblieben sein. Sie haben also die Legende absichtlich mit Stillschweigen übergangen."272

Das ist wichtig. Es wurde über den Gral offenbar allzu viel erzählt und gefabelt, und zwar in Kreisen, die der Kirche fern standen. Nicht geistliche, sondern weltliche Dichter waren es, die mit ihrer Fhantasie den Gral umwoben, ihn mit ihren poetischen Erfindungen ausschmückten, ihn mit wunderbarer Herrlichkeit umkleideten und in unnahbare Höhe emporhoben. Die Kirche scheute offenbar davor zurück, mit diesen Spielen dichterischer Fantasie in ein näheres Verhältnis zu treten. Ohne feindselig zu sein, verhielt sie sich doch ablehnend und ließ die weltliche Dichtung frei walten. Das war gewiss richtig und ein Glück für beide Teile. Es spricht aber gewiss auch diese Stellung der Kirche zur Gralsage dafür, dass wir das christlich­legendenhafte Element in ihr seiner Bedeutung nach nicht überschätzen dürfen und volle Freiheit für die Annahme rein weltlicher, sagenhafter und märchenhafter   Beeinflussungen   haben.   Hätte   die   Kirche   die   Legende

270    Vergleiche Heinzel, „Über die französischen Gralromane", p. 46.

271    Helinandus Frigidimontis (etwa 1160 bis 1229) berichtet in seiner Chronik von vor 1204,
dass ein in Britannien lebender Einsiedler eine Vision von dem Hüter eines Kelches,
Joseph von Arimathia, hat. Mit diesem Kelch soll Joseph von Arimathia das Blut Christi
am Kreuz aufgefangen haben, (-ce)

272    Vergleiche E. Wechssler, „Die Sage vom heiligen Gral", Halle 1898, p. 24. Vergleiche
auch was der Verfasser p. 24 bis 27 darüber bemerkt.


akzeptiert und kontrolliert, so wäre vieles anders geworden. Sie tat es nicht. Und so hatte jeder Dichter, groß oder klein, vollste Freiheit zum Fabulieren. Neben der Speise gebenden Kraft des Grals finden wir in manchen der mittelalterlichen Graldichtungen noch andere Züge, welche die Annahme eines Zusammenhangs derselben mit jenem alt-arischen Sagenkreis, der letzen Endes auf die Vorstellung von Sonne und Mond als himmlische Gefäße zurückgeht, weiter zu stützen durchaus geeignet sind.

Wir sahen, dass in einigen dieser Dichtungen das goldene Gralgefäß nicht getragen wird, sondern, hellen Glanz um sich verbreitend, frei durch die Luft schwebt und die Tafelnden automatisch bedient. Wir wurden dadurch an das Göttergelage in der Edda erinnert, wo das Bier in dem von Hymir erbeuteten Kessel sich selbständig aufträgt, während helles Gold die Beleuchtung dazu gibt. Wir mussten uns sagen, dass für ein goldenes Gefäß, das strahlend frei durch die Luft schwebt, ein vollkommeneres und passenderes Urbild sich nicht denken lässt als das im Himmelsraum frei schwebende, hell strahlende Sonnen- oder Mondgefäß, welche beide nach uralter arischer Vorstellung Göttern und Seligen ihren köstlichen Inhalt darbieten.

Wir waren so kühn, selbst die Reihen von Decken, mit denen der himmlische Soma nach einer Stelle des Rigveda verhüllt ist, in Zusammenhang zu bringen mit den verschiedensten Hüllen oder Decken, mit denen der Gral bedeckt erscheint, bis er in feierlicher Stund enthüllt wird. Dass dies eine kühne und selbstverständlich hypothetische Annahme ist, da hier Zwischenglieder zwischen Rigveda und Graldichtung zu fehlen scheinen, dessen sind wir uns ganz bewusst. Doch durfte uns das nicht hindern, auch diesen Punkt in der Reihe merkwürdiger Zusammenstimmungen mit aufzuführen. Ein höchst wichtiger Punkt der Übereinstimmung, der einen bisher ganz dunkel gebliebenen Zug der Graldichtungen überraschend aufhellt, bestand darin, dass die Gewinnung des himmlischen Soma durch Indra zugleich Regengewinnung, Befreiung der Wasserströme für die Erde und Menschenwelt bedeutet, dass das Somaopfer dementsprechend einen Regenzauber darstellt, der Soma-Mond ein Regenspender ist - und dass dazu in merkwürdigster Weise jene Gralsagen passen, die das Land um die Gralsburg als verdorrt, wüst und unfruchtbar schildern, bis die Auffindung der Gralsburg durch den Gralhelden oder die zauberische Frage, durch die er zum Herrn der Gralsburg wird, alles mit einem Schlag verändert, Wiesen und Wälder grünen, die Wasser wieder fließen macht. Der große Frühlingszauber des Gewittergottes lebt darin in sagenhafter Form weiter. Und wesentlich gestützt wurde dieses Zusammenstellung durch den Nachweis, dass im altgermanischen Mythus die Wiedergewinnung des Donnerhammers durch Thörr sich als Paralleldichtung zu seiner Erbeutung des Bierkessels von

Ymir für das Göttergelage darstellt, dass beide untrennbar verschmolzen im estnischen Märchen von der Donnertrommel erscheinen und hier als Endzweck    des    Ganzen    unzweifelhaft    deutlich    die    Regengewinnung hervortritt.

Die Regengewinnung aber ist nach der altindischen Sage das Werk des reinen Toren - und so ist es ein weiterer merkwürdiger Zug der Übereinstimmung, dass auch der Gralheld, der Sucher und Finder der Gralsburg, sich deutlich in dieser Eigenschaft darstellt; Parzival, der tumbe, der so deutlich mit „Peronnik l'idiot" übereinstimmt.

Wir glaubten auch den rätselhaften, dunklen Zug von dem reichen Fischer, als Gralsherren, ein wenig aufzuhellen, indem wir an Hymir erinnerten, den Walfischfänger, der den Kessel im Besitz hat, nach dem die Götter begehren, dazu noch andere ähnliche Kessel und den köstlichen Kelch; desgleichen an den Fischer Lijon des entsprechenden estnischen Märchens, bei dem freilich eine Verschiebung stattgefunden hatte.

Von großer Wichtigkeit ist der Umstand, dass das himmlische Lichtreich, in welchem Sonnegefäß und Mond-Soma strahlen, in Altindien deutlich als Wohnbereich der Seelen, der seligen Abgeschiedenen, gedacht ist und dass diese  letzteren  als  Mitgenießer des  Inhaltes jener himmlischen  Gefäße erscheinen; dass speziell eine wichtige Erscheinungsform des Seelenheeres, die  Gandharven,   als  waffentragende,  ritterliche  Hüter des  himmlischen Rauschtranks respektive des Mond-Somas und wohl auch des Sonnenbreis, hervortritt, während die eng mit ihnen verbundenen weiblichen Partnerinnen, die Apsarasen, die indischen Schwanjungfrauen sind, aus deren Mitte Urvaci sich loslöst, um ihr typisch schwanelbisches Liebesabenteuer mit einem Sterblichen zu durchleben. Den Apsarasen entsprechen in Skandinavien die Walküren, da auch diese Schwanjungfrauen sind und ähnliche Abenteuer erleben.273 Und die Walküren wiederum stehen direkt mit dem himmlischen Rauschtrank in Walhall in Beziehung, da sie selbst ihn den Einheriern, einer anderen Form des männlichen Seelenheeres, kredenzen. Kein Zweifel, dass schon in ur-arischer Zeit selige Scharen von Abgeschiedenen im Lichtreich des   Himmels,   der   Sonne  und  des   Mondes,   gedacht  wurden,   darunter Schwanelben und kriegerisch gerüstete Männer. Vor allem das deutliche Bild dieser Vorstellungen im Veda löst uns ein großes Rätsel in der Gralsage. Wir begreifen, warum die Gralsburg ein Eden, ein Schloss der Seelen, ein Schloss der Freuden genannt wird. Wir begreifen die Verbindung des Schwanritters mit dem Gral., denn der Schwanritter ist ein unzweifelhaft alter Schwanelb,

Vergleiche L. v. Schroeder, „Griechische Götter und Heroen, eine Untersuchung ihres ursprünglichen Wesens mit Hilfe der vergleichenden Mythologie", Band I, p. 93.

der das typische Schwaneibenabenteuer durchlebt, und er ist zugleich der ritterliche Hüter und Wächter des Gralgefäßes. Er vereinigt in einer Person in gewisser Weise die Natur des Gandharven und Apsarasen respektive bestimmte Züge derselben - oder summarisch, ins Germanische übersetzt, die Natur der Einherier und der schwanelbischen Walküren. Wir begreifen alles dies, sobald wir den Einfluss einer im stillen, im Volk fortlebenden alt­arischen Sagenwelt auf die Ausbildung der Gralsage annehmen. Und diese Annahme stimmt zu allen unseren Ergebnissen.

Auch die Entrücktheit des Grals, die Unzugänglichkeit seines Aufenthaltsortes, das Suchen des Grals durch die Gralhelden unter allerlei Abenteuern und der durch den endlichen Erfolg dann sogleich eintretende Segen erklärt sich durchaus nicht befriedigend aus der christlichen Legende von der köstlichen Passionsreliquie; wohl aber ohne weiteres aus den zahlreichen uralten Sagen und Mythen von dem Suchen und Gewinnen des vorenthaltenen, irgendwo im Verborgenen gehüteten, wunderbaren respektive himmlischen. Gefäßes.

Wenn in der Graldichtung meist bloß ein wunderbares Gefäß hervortritt, bisweilen aber auch zwei Gefäße nebeneinander erscheinen,, von denen freilich eines das andere stets weit überragt; wenn drittens nicht selten auch noch eine Waffe, die Lanze, hinzutritt - dann passt auch dieses Verhältnis vortrefflich zu der alt-arischen Sage und dem alt-arischen Kult, wo bisweilen Sonne und Mond nebeneinander erscheinen, in der Regel aber doch nur von einem der beiden himmlischen Gefäße erzählt wird; während als drittes die Waffe des Donnergottes - Donnerkeil, Donnerhammer, Pfeil, auch Lanze (im Mahäbhärata) - hinzukommt, in der Regel als das machtvolle Mittel, das gesuchte Kleinod zu erringen, bisweilen aber selbst Gegenstand des Suchens und Ringens. Im Peronnik-Märchen erschienen das goldene Becken und die diamantene Lanze, „La Lance sans merci", nebeneinander, im deutschen Märchen, neben dem Tischlein-deck-Dich und dem Esel Bricklebit, auch der Knüppel-aus-dem Sack, der beide wieder gewinnt.

Dass im übrigen vielleicht die Gralprozession bei einigen Dichtern durch das Bild der Vorgänge bei der Messe, insbesondere bei der byzantinischen Messe, beeinflusst worden ist, wollen wir nicht in Abrede stellen. Es ist ganz möglich, vielleicht wahrscheinlich. Die Art und das Maß dieses Einflusses festzustellen, kann hier aber nicht unsere Aufgabe sein. Sie muss denen überlassen werden, welche gerade auf diesen Punkt ein besonderes Gewicht legen.

Wir können es auch nicht unternehmen, das Gebiet der eigentlichen christlichen Legende in der Gralsdichtung bestimmter zu umgrenzen. Uns muss es genügen, festzustellen, dass sich jedenfalls ein reicher Strom altarischer Mythen, Sagen und Märchen mit dieser Legende vereinigt hat. Die Legende wurde von dem Strom erfasst, von der freien Fabulierlust weltlicher Dichter immer weiter getragen. Gerade dadurch aber, dass die hehre Passionsreliquie vom heimischen Sagengut reich umsponnen wurde, konnte eine Dichtung entstehen, die alle poetischen Bedürfnisse der Volksseele befriedigte und zugleich zum unvergleichlichen Symbol christlich­mittelalterlichen Empfindens und Glaubens emporwuchs.

 

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